Heime und andere betreute Wohnformen
Mädchen und Jungen, die in Heimen und anderen stationären Hilfen zur Erziehung leben, vor sexueller Gewalt zu schützen, stellt die Einrichtungen vor besondere Herausforderungen. Diese Kinder und Jugendlichen mussten ihren familiären Lebensort vorübergehend oder auf Dauer aufgeben, weil sie in der Regel dort erhebliche Belastungen erlebt haben oder von ihren Erziehungsberechtigten vor Gefahren für ihr Wohl nicht geschützt werden konnten. Der neue Lebensort soll ihnen helfen, diese Erfahrungen zu verarbeiten und die Defizite auszugleichen, die sie davongetragen haben.
Erhöhte Verletzlichkeit
Mädchen und Jungen in stationären Einrichtungen sind aufgrund ihrer Vorerfahrungen eine besonders vulnerable Gruppe: Was sie erlebt haben, macht sie häufig verletzlich, (sexuelle) Gewalt und Missachtung wieder zu erleben, denn ihre Stabilität, ihre Abwehrkräfte und ihr Selbstvertrauen wurden geschwächt - oft schwer angegriffen. Die Anforderungen an Schutzkonzepte gegen sexuelle Gewalt für stationäre Einrichtungen sind deshalb sehr hoch, denn die Fachkräfte und ihre Leitungen haben die große Verantwortung, dass sich Kindeswohlgefährdungen wie sexuelle Gewalt nicht wiederholen sollen – nicht außerhalb des Schul- oder Freizeitbereichs, aber auch nicht in der Einrichtung.
Hohes Maß an Fachlichkeit
Diese große Verantwortung trifft in Heimen und anderen Einrichtungen auf ein hohes Maß an Fachlichkeit, denn die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben in aller Regel pädagogische oder/und therapeutische Ausbildungshintergründe. Kinderschutz gehört sozusagen zu ihrem „Kerngeschäft“. Zudem finden sich in diesem Bereich ganz überwiegend hauptamtliche Beschäftigungen, so dass konzeptionelles Arbeiten, aber auch einzelne Konzept-Bestandteile wie „Qualifizierung“, „Präventionsangebote machen“ oder „sich als Ansprechperson zur Verfügung stellen“, zu den beruflichen Anforderungen passen.
Darüber hinaus haben Heime und andere betreute Wohnformen durch die rechtlichen Vorgaben des Jugendhilferechts einen gewissen „Vorsprung“: Die Verpflichtung, zur Sicherung der Rechte von Kindern und Jugendlichen in der Einrichtung geeignete Verfahren der Beteiligung sowie der Möglichkeit der Beschwerde in persönlichen Angelegenheiten anzuwenden, haben viele Einrichtungen längst umgesetzt bzw. mit der Umsetzung begonnen. Vielfältige Erfahrungen mit diesen Ansätzen können als Good Practice von anderen Einrichtungen zur Orientierung genutzt werden, entsprechende Veröffentlichungen liegen seit einigen Jahren vor.
Ein Organisationsentwicklungsprozess
Die Erfahrung zeigt, dass Schutzkonzepte für Heime und andere betreute Wohnformen Organisationsentwicklungsprozesse verlangen und sich nicht auf eine Reihe von Maßnahmen zum Schutz vor sexueller Gewalt reduzieren lassen. Einrichtungskultur und Arbeitsbedingungen spielen eine erhebliche Rolle für das Risiko, dass sexuelle Gewalt innerhalb der Einrichtung stattfinden kann. Wenn Teams beispielsweise eine ausgeprägte Feedbackkultur pflegen, sind sie eher in der Lage grenzwertiges Verhalten von Kolleginnen oder Kollegen zu thematisieren oder Handlungsweisen zu hinterfragen und so konstruktiv an einer Kultur der Grenzachtung zu arbeiten – ohne vorschnell einen Verdacht auszusprechen. Wo die Arbeitsbedingungen stimmig sind, wo Arbeitsumfang und -belastung zu zeitlichen und finanziellen Ressourcen passen, wächst die Bereitschaft der Mitarbeitenden, konzeptionell zu arbeiten, die Fachlichkeit der Einrichtung voranzubringen und dem Schutz der ihnen anvertrauten Mädchen und Jungen systematisch Aufmerksamkeit zu widmen. Auch die Haltung der Mitarbeitenden zu Mitbestimmung und Beschwerdeverfahren für Kinder und Jugendliche hängt davon ab, ob Partizipation und Beschwerdemöglichkeiten zu ihrem eigenen Arbeitsalltag gehören.
Bei der Entwicklung und Implementierung von Schutzkonzepten spielen die Bewohnerinnen und Bewohner der Einrichtungen eine besondere Rolle: Ihre Perspektiven und Erfahrungen müssen in das Konzept einfließen, damit es sein Ziel erreicht. Aber ebenso wichtig ist, dass die Arbeitsergebnisse, die einzelnen Maßnahmen und Abläufe mit den Kindern und Jugendlichen besprochen und ihre Eindrücke von der Tauglichkeit und Wirksamkeit erfragt werden.
Anregungen
Hochdorf – Evang. Jugendhilfe im Kreis Ludwigsburg e.V. (Hg.) (2014): „Damit es nicht nochmal passiert…“ Gewalt und (Macht-) Missbrauch in der Praxis der Jugendhilfe verhindern. Hochdorf: Eigenverlag.
Diakonieverbund Schweicheln e.V. (Hg.) (2004): „Handlungsorientierung zum grenzwahrenden Umgang mit Jungen und Mädchen"
Wolff, M., Schröer, W., Fegert, J. M. (Hg.) (2017): Schutzkonzepte in Theorie und Praxis – Ein beteiligungsorientiertes Werkbuch. Weinheim: Beltz